Zugegeben, auch der Autor dieser Zeilen hat in KE/HIL, dem Nebenprojekt der beiden :GO:-Frontmänner WILHELM HERICH und BRIGANT MOLOCH, geraume Zeit "nur" so etwas wie da real thing's Light-Version gesehen, so in etwa nach dem Motto: "Wenn's mal nicht :GO: sein kann, bescheidet man sich zur Not eben mit KE/HIL". Diese Einschätzung erfuhr bereits 2015 durch das fulminante Album "Zone 0" existenzbedrohliche Risse – und wird mit dem vorliegenden Opus nun endgültig über den Haufen geschossen. Indes, sie beruht ohnehin auf unausgegorenen Annahmen, und so kann man es nicht deutlich genug betonen: Das hier ist was anderes! – Und die Unterschiede beschränken sich keineswegs nur auf Oberflächlichkeiten wie jenen legeren Trainingsanzug-Style, der bei Liveauftritten der beiden Mannheimer unter dem KE/HIL-Moniker gerne mal den martialischen Uniformschick einer typischen :GO:-Performance ersetzt. Nein, auch die inhaltliche Programmatik ist eine andere, nämlich dezidiert urbane: betrachtet man die bisherige Diskographie im Detail wie in der Gesamtschau, so ist es wohl nicht zu weit gegriffen, von so etwas wie Meditationen über die Wechselwirkung zwischen Mensch und Habitat zu sprechen, wobei der Schwerpunkt der Betrachtung selbstredend weniger auf der Betulichkeit ländlicher Siedlungsgemeinschaften denn auf deren prekärem, deutlich umfangreicheren Komplementärpart liegt: dem urbanen "Lebensraum" als Organisationsstruktur einer perfiden Konditionierungs-, Unterdrückungs- und Kontrollfunktionalität, die – in Blütezeiten uneigentlicher Rede wie den gegenwärtigen freilich kaum noch erwähnenswert – die Anführungszeichen um den Begriff "Lebensraum" als Sine-qua-non semantischer Redlichkeit quasi unverzichtbar macht. Und auch der Sound differiert deutlich von der, insgesamt doch eher dynamischen Agenda, die mit :GO: verfolgt wird: KE/HIL stehen, wenn schon keineswegs für ein statisches, so doch für ein massiv entschleunigtes, nichtsdestoweniger bemerkenswert wuchtiges und dichtes Kompositionskonzept, das seinem thematischen Gegenstand verstörend gerecht wird.
Begeben wir uns also unter fachkundiger Führung der Herren MOLOCH und HERICH zu einer neuen, nichts weniger als erbaulichen, Erkundungstour quer durch lichtlose, von post-post-postindustriellen Ruinen gesäumte Straßenschluchten prä-apokalyptischer, zerfallender Metropolen, zu der "Syndrome/Antidrome", KE/HILs nunmehr drittes Opus unter der Ägide "Music for the Prekariat", einen rundum stimmigen Soundtrack abgibt. Und spätestens nach dem dritten Hördurchgang kondensiert zu Gewissheit, was während des ersten bereits als vage Ahnung empordämmerte: Nach dem Debüt "Hellstation" von 2010 und dem, entspannte fünf Jahre später erschienenen, Nachfolger "Zone 0" präsentiert "Syndrome/Antidrome" das fragliche Gesamtkonzept jetzt im vorläufigen Zenit seines ästhetischen Reifungsprozesses: solch musikalische Geschlossenheit, solch emotionale Unterkühltheit und thematische Dichte bei einem gleichzeitigen Höchstmaß an kompositorischer Komplexität war selten vorher. Der Sound ist über die gesamte Spielzeit hinweg grimmig und kalt, dreckig und desolat, die Vocals über weite Strecken nahezu emotionslos, verwaschen und dabei trotzdem beunruhigend hypnotisch, und selbst auf dem, in dieser Hinsicht bereits vorbildlichen, Vorgängeralbum "Zone 0" wurde das Sujet nicht dermaßen stringent, konsequent und fesselnd ausgearbeitet, wie auf der vorliegenden Veröffentlichung – um es also gleich mal unumwunden auf den Punkt zu bringen: Hier wurde die Wurst vom Teller gezogen, ohne auch nur den klitzekleinsten Zipfel zurückzulassen. Zwar macht es die Scheibe dem Hörer zu Anfang nicht ganz leicht, will heißen: sie zündet kein euphorisches Ad-hoc-Feuerwerk, sondern fordert erst einmal eine gewisse Einfühlungsphase, entfaltet dann jedoch eine, sich von Hördurchgang zu Hördurchgang stetig steigernde Intensität und Sogwirkung, die den Rezipienten am End' um die Einsicht kaum herumkommen lässt, es hier mit dem vorläufigen Opus Magnum der beiden Kurpfälzer PE-Patriarchen zu tun zu haben. KE/HIL @ "Will To Power : Electronics II", Mannheim, 17.06.2016 Zur Deutung des thematischen Gehalts scheint sich der Zugang über den, auf den ersten Blick recht schmissigen, auf den zweiten etwas ominösen, Titel anzubieten. Der Rezensent ist hoffnungsfroh, den hermeneutischen Furor nicht zu weit zu treiben, wenn er behauptet, "Syndrome/Antidrome" nehme den Bewohner des urbanen Habitats in seinem zeitgemäßesten Modus, nämlich dem der Bewegung (griech. drómos = Weg, Lauf) in den Blick, und zwar in zweierlei, nämlich konvergenter (griech. syn = zusammen) und divergenter (griech. anti = gegen), Richtung: die entwurzelten Massen – jenes Prekariat, das KE/HIL in programmatischer Absicht zur Zielgruppe ihrer musikalischen Umtriebe erkoren haben –, rotten sich entweder zusammen – wenn es bspw. um die Befriedigung biologischer oder sozialer Bedürfnisse geht –, bekämpfen einander oder fliehen einander – wenn es um soziale, ökonomische oder territoriale Ansprüche geht –, und die Infrastruktur des urbanen Habitats trägt dem in Gestalt von Knotenpunkten wie Einkaufszentren, Stadien, Wohn- und Bürokomplexen, ja: Nervenheilanstalten und Friedhöfen Rechnung, kanalisiert, dirigiert und funktionalisiert sie so aber gleichzeitig: "Starting at "Hellstation" towards "Zone 0", passing buildings whose true purpose is less based on functionality than on degeneration. To degenerate the population, painting them pictures of would could be but never will be", wie der Promotext es in etwas holperigem Englisch formuliert. Und zweifelsohne ist die kontinuierliche Bewegung, die das urbane Beziehungsgeflecht dem Individuum aufzwingt, eines der effektivsten Mittel des Machtapparates im Interesse einer umfassenden Kontrolle des Einzelnen wie des Kollektivs: der Mensch in konstanter, totaler Mobilität und Dynamik hört auf, deren Sinn zu hinterfragen, ja: die Sinnfrage an sich wird zur verzichtbaren Nebensache, für die schlicht die Zeit fehlt – und wo Nachdenken zum Luxus wird, hat der Strippenzieher leichtes Spiel. Kommen wir zur Detailbetrachtung: Der Einstiegstrack, "When Comes Such Another", baut sich im wesentlichen um einen kalten, verwaschenen Basisloop herum auf, der wie eine Mischung aus Luftschutzsirene und Panzerkettengerassel auf verharschtem Schnee klingt. Die transportierte Stimmung ist hoffnungslos und fatalistisch, entbehrt dabei jedoch jedes emotionalen Pathos. Auch "Farmed Flesh" brilliert mit brutalstmöglich abgesenkter Betriebstemperatur, kommt durch all das eingearbeitete, gepeinigte Geschrei und Gebell aber noch deutlich agonaler daher. "The Trite Of Life" und "My Soul Is Dead", zeichnen sich wieder durch ein Maximum an Indifferenz und Emotionslosigkeit seitens der Vokalisten MOLOCH und HERICH aus, wirken insgesamt aber komplexer strukturiert und haben deutlich mehr Schub als die Einstiegstracks. "The Trite Of Life" mit seinem sich langsam ins Hirn fräsenden, monotonen Bassloop, der in zwei abwechselnden, rhythmischen Modi ertönt, während die stoischen, mutmaßlich MOLOCHschen, Vocals darüber hinwegschnarren, macht Freude, doch insbesondere "My Soul Is Dead" gibt kraft des eindringlichen, resignativen Singsangs von WILHELM HERICH vor schleppend-apathischem Gestampfe einen ersten Höhepunkt ab. Das vergleichsweise rumpelige "Designed Poverty" hält die Stimmung perfekt, geht aber trotzdem eher als Zwischenmahlzeit durch, bis "Men To Drome" mit einem entfernt technoid anmutenden Loop einsetzt; was nur konsequent ist, denn hier geht’s nun wirklich dorthin, wo der Bartel den thematischen Most holt – und entsprechend unruhig, irgendwie torkelnd, irgendwie stolpernd, geht die Reise weiter: im Hintergrund kreiselt ein verhallendes "Good evening everyone", man visualisiert das Partyzelt im Einsturz begriffen, bis kalte, ruhige Soundflächen, durchbrochen nur von BRIGANT MOLOCHs unterkühlten Rezitationen, alles einhüllen. "Dusty Ruins" wirkt trotz der auf dem Album herrschenden, unterdrückten Nervosität, vergleichsweise ruhig und gesammelt, die Vocals ließen den Rezensenten sogar kurz an den alten COIL-Klassiker "Cathedral In Flames" denken, doch da ging die Fantasie wohl mit ihm durch. "Alone Kind" und "Adumbration Of Man“ kommen recht wuchtig und gleichzeitig paralysierend-hypnotisch daher, es herrscht wieder jene maximale Kälte, die das Album durchwegs so konsequent abfeiert. "Clear Sight On No Land" schließlich leitet das Finale mit einem fiesen Fiepen ein, das wenig später durch einen aggressiv dazwischenstampfenden, metallischen Beat fragmentiert wird, es folgen massive Noiseattacken, kombiniert mit durch den Schredder gejagten und bis zur Unkenntlichkeit verstümmelten Vokalsamples. Der letzte Track auf "Syndrome/Antidrome" ist auch mit Abstand der offensivste und weist zum Abschluss dann doch noch einmal deutliche Anklänge an :GO: auf. So ganz können sie's halt doch nicht verbergen. Summa summarum: "Syndrome/Antidrome" ist nach des Rezensenten bescheidener Meinung die beste KE/HIL-Veröffentlichung bislang, ein durchweg packendes, fesselndes Album mit Substanz, das zudem auch noch die kleinen grauen Zellen in Schwingung zu setzen vermag – was heutzutage keineswegs eine Selbstverständlichkeit ist. Gibt's als Vinyl, flankiert von einem Bandcamp-Downloadcode, obendrein sind auch noch zwei verschieden Versionen des Coverartworks – "Black Drome" und "White Drome", jeweils auf 250 Stück limitiert – erhältlich, die sich jedoch, die Bezeichnung legt's nahe, lediglich in der Schwarzweißverteilung unterscheiden. Für ultraorthodoxe Oldschool-Fundamentalisten schließlich hat TESCO in Zusammenarbeit mit ZAETRAOM sogar noch eine Cassetten-Version aufgelegt, die ist jedoch auf lediglich 200 Stück limitiert. Doch völlig wurscht, vermöge welchen Mediums "Syndrome/Antidrome" auch goutiert werden mag, in jedem Fall heißt die Devise: Album knallt! Prekariat schreit "Hurra!"! Alle Mann zugreifen!
Endsal für nonpop.de
Verweise zum Artikel: » KE/HIL @ Discogs » TESCO-Homepage » TESCO @ Bandcamp » TESCO @ SoundCloud » "Syndrome/Antidrome" @ Bandcamp Themenbezogene Artikel: » KE/HIL: Zone 0 Themenbezogene Newsmeldungen: » Neues Album von KE/HIL
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