nEGAPADRES.3.3. ist seit Mitte der 80er Jahre das experimentell-ambiente Standbein der belgischen EBM-Pioniere à;GRUMH. Die Künstler geben sich hier die seltsamen Namen "J3 sEUQCAJ" und "S3 eVETS".1987 erschien eine selbstbetitelte, heute sehr rare LP auf CIRCLE RECORDS, einem obskuren, recht kurzlebigen Label, welches à;GRUMH-Mann "S3 eVETS" mit Hilfe von PLAY IT AGAIN SAM ins Leben rief und auf das ich später noch einmal zurückkommen werde. Danach widmeten sich die Belgier viele Jahre ihrem Hauptact à;GRUMH. Die Auskenner, der mir immer etwas fremd gebliebenen EBM-Welt nennen sie heute in einem Atemzug mit anderen stilbildenden Projekten wie etwa FRONT 242, NITZER EBB oder BORGHESIA (mit denen sie besonders befreundet waren). 2003 gab es dann urplötzlich wieder ein Beitrag auf einer belgischen Compilation zu bestaunen, die anlässlich des 2. belgischen Independentfestivals erschien und auf der sich auch die alten Freunde und Landsleute von SNOWY RED wieder zurückmeldeten. 2004 folgte dann ein weiterer Compilationbeitrag, nämlich auf der so gewichtigen "1961“-Compilation unserer Webportal-Kollegen von IRONFLAME. Offenbar besteht zwischen à;GRUMH bzw. nEGAPADRES.3.3. und Ironflame eine treue Freundschaft, die 2004 durch die witzige PSYCHIC TV/THROBBING GRISTLE-Tribut bzw. Verarschungs-Single "Unclean“, die gleichzeitig nach 14 Jahren wieder die erste offizielle à;GRUMH-Veröffentlichung war, nochmals deutlich wurde. Geplant war damals auch, via Ironflame den gesamten CIRCLE RECORDS-Backkatalog neu aufzulegen, ob das was wird, weiß ich nicht. Lohnen würde es sich in jedem Fall, gar nicht einmal unbedingt, weil dieser sehr an industrielle C93 erinnernde Sound des Labels so toll ist, sondern weil das Drumherum, die liebevolle, selbstironische Art der TOPY-Ästhetik und des "Gay- Okkultismus“ im Allgemeinen augenzwinkernd die Ehre zu verweisen, sehr witzig war, und immerhin erschien dort auch unter dem Namen A CHUD CONVENTION eine heute gesuchte Zusammenarbeit zwischen SKINNY PUPPY und à;GRUMH.2006 ist dann endlich via HERMETIQUE, dem hoffnungsvollen französischen Label des Künstlers hinter PROPERGOL, die Veröffentlichung eines ganzen Vollzeitalbums mit neuem nEGAPADRES.3.3.-Material erschienen. "Exstrophy Of Amphigouris“, so der Titel, kommt in einer gewöhnlichen DVD-Hülle, auf dem Cover ein stimmungsvolles Bild zweier Kirchturmspitzen im Abendrot, zwischen Bäumen hindurch photographiert, ein Bild das bei mir eher unangenehme Assoziationen an "Gothic Metal“ auslöst. Die Innenseite lässt dann erstmals einen feinen Humor aufkommen, dort sieht man dann auf gleichem abendrötlichen Hintergrund drei normale Essgabeln sich kreuzen, wie man es sonst mit Schwertern auf Wappenbildern gewohnt ist. Wenige Leser dürften die 1987er LP von nEGAPADRES.3.3. kennen, denen die sie besitzen, sei aber gesagt, dass man nun, 2006, bedeutend "ernsthafter“ und "ambitionierter“ klingt als noch damals. Nachwievor erklingt jedoch geheimnisvoll tönender Ambient mit einer stark experimentell- industriellen Note. HERMETIQUE erwähnt dann auch als Vergleich und Referenz in seiner Presseinformation THE GRIEF und einmal mehr die Frühzeit von CURRENT 93. Zum Vergleich mit THE GRIEF (die späteren NORSQ), einem Projekt aus dem Umfeld von VON MAGNET, kann ich nicht viel sagen, was ich von denen kenne, klingt anders. Und CURRENT 93? Der Vergleich ist nachvollziehbar, aber auch falsch. Eine Scheibe wie "Nature Unveiled“, 1989, war ein typischer "Industrial Culture“-Lustschrei und fasziniert heute als Zeitdokument, "Exstrophy Of Amphigouris“ hingegen ist sehr modern, vielschichtig und nicht eine Sekunde lang "old school“. Was mir beim Hören in den Sinn kommt, sind eher manche wirklich atmosphärische Ritual Industrial- Kompositionen von SIGILLUM S, vielleicht auch von NOCTURNAL EMISSIONS ("Invocation Of The Beast Gods", 1989), entfernt noch PSYCHIC TV zur Zeit des superben "Mouth Of The Night“-Albums (1985). Schlussendlich präsentieren sich nEGAPADRES.3.3. hier aber auch als surreale Soundtüftler, die vom Klangbild vielleicht auch an manches von ANDREW LILES, IRR. AP (EXT.), CYCLOBE und sogar C.O.CASPAR (hier solche Kompositionen wie die BAUDELAIRE-Vertonung "Litany" auf "Labcompilation2") erinnern, während diese Art "Düsternis“ mit Humor zu verbinden, bei der man sich immer wieder aufs Neue entscheiden muss, ob es eine besonders perfide Form der Scharlatanerie oder "Kunst" ist, und außerdem für interessante Klänge keine Kosten und Mühen zu scheuen, ja ganze Weltreisen miteinzubeziehen, auch etwas von HAFLER TRIO oder VAGINA DENTATA ORGAN hat. Das sind also die Eckdaten und diese müssten jetzt sofort einigen mindestens eine Erektion verschaffen, aber weiter geht’s: Das erste Stück "Tull Ipegooh Dah“ fängt mit klassischer atonaler Geigenmusik in Richtung SCHÖNBERG an, zu dem sich alsbald tiefste Drones und eine Art Obertongesang (oder doch ein Didgeridoo?) gesellen, die Liner Notes vermerken eine irgendwie geartete konzeptionelle Inspiration von cEVIN KEY (SKINNY PUPPY, DOWNLOAD etc.). "Obstinacle“, das nächste Stück, basiert nun auf Hundegebell und Cello-Klängen, was allerdings nur schwer zu glauben ist, sechs Minuten aus der Abteilung Tinnitus-Terror. "Seegooyull“ verbindet Aufwärmgeräusche eines Concorde-Flugzeugs am Heathrow-Flughafen mit Aufnahmen sogenannter ELF/VLF-Radiowellen, ich glaube GALLERIE SCHALLSCHUTZ versuchten Ähnliches schon einmal, tja und den Flugzeuglärm kennt man von VIVENZAs "Aerobruitisme Dynamique", 1994. "Absinthe a la Guinguette de l’Espadon“ klingt dann, als sei die für mein Geschmack etwas zu betuliche Absinth-Session zwischen BLOOD AXIS und LES JOYAUX DE LA PRINCESSE von einem Haufen pervers rüpelnder, französischer oder von mir aus auch belgischer Banlieu-Punks gestört worden, mit anschließender Vergewaltigung der Schöngeister, super! Die drohende französische Stimme erinnert hier total an IGOR WAKHEVITCH, einen sehr spannendern Avantgardisten und Progressiv-Rocker, der auch mit SALVADOR DALI zusammenarbeitete. Absolut skuril auch "Gontain Air Nr. 2 (VRTP)“, sehr finster, hektisch, verwoben mit verschiedenen Stimmsamples. Die Liner Notes erwähnen die "Moose Story“ von WOODY ALLEN, außerdem ist das Stück – warum auch immer - dem äthiopischen Prinzen ALLE ISSE DEHII gewidmet (gibt es den überhaupt?). "Weedohno“ lässt Field-Recordings einer heidnischen Zeremonie aus den schwer zugänglichen Wäldern Tasmaniens erklingen, irre! "Transe Ov Exstrophy“ kennen wir nun bereits vom "1961“-Ironflame Sampler. Ich war schon damals der Meinung, dass dies eines der besten Stücke dieser ziemlich guten Veröffentlichung war, aggressiv, skurril und mystisch zugleich. J3 sEUQCAJ nölt hier herrlich rum, wie einst GENESIS P’ORRIDGE. "Lyrisch“ geht es wohl darum, wie es denn wäre, zwei Penise statt einem zu haben. Die letzte Komposition "Litz Day Kursk“ widmet sich dann einem ernsten Thema. Eingefangen sind hier Unterwasseraufnahmen im U-Boot Hafen von Rosyth, Schottland (Der Titel weist auf das verunglückte, russische U- Boot "Kursk" hin). Die Liner Notes beschreiben die Arbeit von JOHN YOUNG, einem Künstler aus Seattle, USA, der wohl das Problem der fachgerechten Abrüstung der SSBN (U-Boote, die zum Einsatz von Atomraketen konstruiert sind und atomar betrieben werden) aufgreift und Teile solcher U-Boote als "ein öffentliches Monument für den Frieden“ ausstellen will. Ich habe mich in meinem Leben noch nie mit U-Booten beschäftigt und es könnte sein, dass ich da etwas nicht richtig verstanden habe. "Nicht verstehen“ ist sowieso so ein Stichwort bei diesem Album, ich habe, ehrlich gesagt, ziemlich viel "nicht verstanden", aber gerade das macht "Exstrophy Of Amphigouris“, was heißt das überhaupt?, wirklich zu etwas ganz Besonderem. Ich bin von diesem Werk hier richtiggehend begeistert. So ein Meisterwerk des fast rituellen, vielschichtigen, wahnsinnig phantasievollen Industrials habe ich schon seit Ewigkeiten nicht mehr gehört und die letzten Alben, die diesen speziellen Spirit haben, sind schon fast vor meiner Geburt erschienen. "Exstrophy Of Amphigouris“ scheint mir jetzt schon zumindest ein kleiner Klassiker zu sein, weil es mich mehr fesselt als das Beste von z.B. SIGILLUM S oder NOCTURNAL EMISSIONS, die ich ja eingangs als Referenz nannte. Auf nEGAPADRES.3.3. könnten sich eine Menge Musikbegeisterte unserer Szene einigen, angefangen bei allen, die die bisher im Text genannten Projekte schätzen, bis hin zu solchen, die eher auf LOKI FOUNDATION oder gar solches Zeugs wie ETANT DONNES bis hin zu DOWNLOAD oder SKINNY PUPPY abfahren. Große Klasse und dicke Kaufempfehlung!
Dominik T. für nonpop.de
Verweise zum Artikel: » nEGAPADRES.3.3. (offiziell) » nEGAPADRES.3.3. Microsite von Hermetique »
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